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Wiesenmarkts Erinnerungen

Erinnerungen meiner Schwester Annemarie an ihre Kindheit im Gasthaus „zum Bären“ zur Wiesenmarktszeit:


Wiesemaik in Erbach vor iwwer 50 Johr


Wiesenmarktszeit in Erbach ist auch heute noch etwas ganz Besonderes, dies können alle echten Erbacher nachfühlen und erleben.

Meine Gedanken gehen dieser Tage in meine Kindheit zurück, die ich in meinem Elternhaus in Erbachs Stadtmitte, dem „Gasthaus zum Bären“ erlebte. Die Zeit wurde in „vor und nach Wiesemaik“ eingeteilt, Betriebsstärken wurden das ganze Jahr je nach Gästezahl soviel wie 1. oder 2. Wiesemaik gemessen und alle Vorbereitungen, Denken und Handeln wurde auf die zu erwartenden Höhepunkte der Gästebewirtung ausgerichtet. Verwandte aus Darmstadt und dem Rheinland wurden eingeladen (aber keineswegs zum Feiern, sondern für alle anfallenden Arbeiten). So wurde mein bierzapfender Onkel einmal von einem Gast einer Reisegesellschaft angesprochen „Sie, Sie sehen grad aus wie der Bürgermeister unseres Nachbarortes im Rheinland“. Darauf der: „Kann gut sein, ich bin´s!“ So wurden damals die Gastarbeiter besorgt und die weitesten Reisewege in Kauf genommen, nur um dabei zu sein. Betten wurden geteilt und aus allem Verfügbaren improvisiert. Alle Zimmer, die nicht zum Schlafen genutzt, wurden ausgeräumt, umgeräumt, Bierzeltgarnituren so eng wie möglich hineingestellt und wie heute die Häckerwirtschaften als zusätzliche Gasträume betrieben.

Unterdessen herrschte in unserer angegliederten Metzgerei Hochbetrieb. Mein Vater und einige Aushilfsmetzger (auch nur für die Wiesenmarktszeit geordert) stellten unter Dampf und Schüsselgeklapper die wichtigste Wiesenmarktsspeise, die Fleischwurst, her, die dann im Kessel brühte und auf Rauchstangen zu Hunderten hing. Der Duft von Rauch und Wurstkessel liegt mir noch heute in der Nase. Mitunter wurde mir eine kleine Wurst angemessen, die dann nur für mich war. Die geräucherten Ringe warteten im Kühlraum auf ihre Abnehmer. Inzwischen war ich auch mental auf das kommende Fest eingestimmt, denn drüben an der Bach am Eckerlin seinem Kinohäuschen leierte der erste Drehorgelspieler sein immer wiederkehrendes Potpourri. Spätestens dann haben dienstbare Geister das Haus und vor allem die Fenster wiesenmarktsfein geputzt, und die im Winkel daherschlummernde Fahne (landespatriotisch in rot-weiß und unverbindlich wegen eventueller Michelstädter Gäste) hatte ihr alljährliches Debut. Gewaschen, gestärkt und gebügelt verlieh sie – nachdem sie mit Stangen durch Zurufe hilfsbereiter Nachbarn in die richtige Position gebracht – unserem Haus Würde und Noblesse.

Das Aufhängen der Stoffbahn war nicht immer ein besinnlicher Akt, sondern durchaus ein temperamentvolles Unterfangen bezüglich der zu straffenden Leinen und Bahnen. Zu diesem Zeitpunkt reiste der pensionierte, aber noch sehr rüstige Darmstädter Großonkel an, der in diesen Tagen die Dienste eines Haus- und Hofmeisters übernahm alle möglichen Arbeiten: richtete Bänke und Tische im Hof zu einem gefälligen Biergarten, der jedoch die Grundstücksgrenze zum Nachbarn R. nicht überschreiten durfte. Zwischendurch stahl ich mich von der Neugier gepackt immer wieder mal zum Seedamm „mol gucke was schun do is“. Man sah auch damals wie heute u.a. den Aufbau der Leistungsschau, die Achterbahn, das Sciorshäuschen und die Schiffschaukel.

Ein weiterer Höhepunkt der häuslichen Vorbereitungen war das Schlagen der Birken. Mit unserem Auto, Opel Kadett Baujahr 36, und dem Viehanhänger fuhren Vater, Onkel und ich in Richtung Eulbach, um dort die vom Förster zugeteilen Bäumchen zu holen, die dann, mit Kreppbändern versehen, in das Städtelpflaster eingebracht, unserem Biergarten das notwendige festliche Ambiente gaben.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde ich zur Randfigur der betrieblichen Geschäftigkeit degradiert, und der Wiesenmarktstrubel nahm seinen Lauf. Mahlzeiten wurden auf der Bettkante oder im Stehen verzehrt, denn Stühle waren für die Gäste.

Die strömten zu dieser Zeit vom Bahnhof zum Marktgelände und somit in die Innenstadt und ihre Gasthäuser. Der Hackebäcker oder Heilmann brachte die Weck waschkorbweise (auch sonntags) und die obligatorische Worscht-Weck-Mahlzeit wurde mit Unmengen von Bier verzehrt. Aushilfskellnerinnen, die unser Hausfaktotum Adam unterstützten, trugen Tabletts treppauf und ab, und war mal ein Bier zu viel geordert, trank man es einfach selber. Auch ohne Computer, Serviceverrenkung und Erlebnisgastronomie kam echte Feststimmung auf, zumal fahrende Musikanten, z.B. der Gitarrist „Zack-Zack“ aus Darmstadt, des öfteren am Tag reinschaute und für Remmidemmi sorgte.

Um meine kindliche Quengelei der Wiesenmarkt-geh-Lust zu beruhigen, wurden mir 2,- DM in die Hand gedrückt. Mit dem Auftrag nicht alles auszugeben, durfte ich mich in den Festrummel begeben. Wieder nach Hause zurückgekehrt, mußte ich mich gerade eingetroffenen VIP´s zeigen, die meine Größe und Körperstatur teils wohlwollend, teils minder abschätzend seit letztem Wiesenmarkt musterten. Meine Eltern hatten für das Fest leider keine Zeit, außer am Mittwochnachmittag an dem meine gestresste Mutter das Kinderfest besuchte. Als Gänseblümlein, Schmetterling oder Pinguin durchwanderte man die von Hitze berstende Stadt zur Sportplatzwiese, wo unter sengender Sonne nach dem Lied: „Zum Tanze da geht ein Mädel“ inzwischen mehr oder minder schlappe Tanzdarbietungen folgten. Belohnt wurde diese schulische Zwangsveranstaltung mit Tee vom DRK und Freikarten sowie gut gelaunten Lehrern.

Lang ersehnte Kinderwünsche, wie Reitschul fahren, Wundertüte, Lebkuchenherz, ein Glas von der gelben Brühe (brauseähnliches Orangengetränk aus Glasaquarium-Eckstand mittlerer Weg an der Treppe), Softeis mit Schokostreusel und eine Blecharmbanduhr wurden an diesem Tag erfüllt.

Zum Schluß bekam ich noch (ohne jegliche rassistische Absicht) einen Negerluftballon, der aber leider sein irdisches Dasein auf dem Heimweg Höhe Hofapotheke aufgab und himmelwärts schwebte.

Den Rest der Woche futterte man die mitgebrachten Makronen, Mandeln, Zuckerstange, spielte mit dem schon leicht ramponierten, auf dem Markt erstandenen Spielzeug und war damit zufrieden.

Übrigens wurde mir als Kind gesagt, am 2. Samstag und Sonntag ist Wiesenmarkt nur für Auswärtige.

Und ich hab´s geglaubt! Heute heißt meine Devise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!


Annemarie Pohl, Erlenbach